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Erschienen in: NZZ, 30.11.2018

Das Glück liegt im Verborgenen

Die Fundstellen sind abgesucht, die Preise auf Talfahrt, und die Mineraliensammlung in der guten Stube ist auch nicht mehr gefragt. Und doch zieht es passionierte Strahler immer wieder hinaus in die raue Bergwelt – getrieben von der Hoffnung, eines Tages eine spektakuläre Kluft zu entdecken. Neue Chancen eröffnet ihnen die Gletscherschmelze.

«Das ist für uns schon ein Schlaraffenland», sagt Bruno Müller und schickt das Kinn zum gegenüberliegenden Berghang. Der Tiefengletscher, der dort wie ausgeleerte Farbe zwischen den Felsen klebt, schmilzt und schmilzt, wie dies Gletscher heute eben tun. Erschreckend findet das auch Müller. Doch gleichzeitig freut sich der Mann im braunen Baumwoll-Shirt, der selbst hier oben auf 3000 Metern über Meer keine Sonnenbrille trägt, über die ausgeaperten Stellen, die dieses Jahr zum ersten Mal eisfrei sind. Sie sind für ihn eine potenzielle Goldgrube. Denn Müller ist Kristallsucher, Strahler, wie man in der Schweiz sagt, oder Strahlner, wie er, der Urner, sagt. Er ist einer von rund einem Dutzend Berufsstrahlern in der Schweiz, die in den Sommermonaten ihr Geld mit der Kristallsuche verdienen.

Gut ein Vierteljahrhundert ist er schon im weglosen Gebiet rund um den Tiefengletscher unterwegs – ein Klacks angesichts der langen Strahlertradition in der Gegend oberhalb der Furkapassstrasse. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird hier systematisch nach Kristallen gesucht. Wer noch etwas finden will, begibt sich daher in die Steilwände oder stürzt sich auf das Neuland, das der schmelzende Gletscher freigibt, und sucht dort nach den glitzrigen Quarzadern im Gestein. Sie sind ein Hinweis auf die gesuchten Hohlräume im Gestein, die sogenannten Klüfte, die sich bei der Alpenfaltung vor Millionen von Jahren bildeten und überhaupt erst Raum für das Auskristallisieren der Mineralien boten

Soziale Kontrolle am Fels

Direkt unter der Hauptzunge hat Müller am Anfang der Saison eine vielversprechende Kluft gefunden. Von dem Felsvorsprung, auf dem er nun mit seinem Kollegen Sepp Jauch steht, hätte man beste Sicht auf die Fundstelle. Nur wurde der Eingang zur Kluft durch einen Gletscherabbruch wieder unter dem Eis begraben. «Gewaltig, dieser Bruch», sagt Jauch mit dem Feldstecher vor den Augen. Er und Müller haben den Gletscher zwar den ganzen Sommer über beobachtet und gewusst, dass irgendwann etwas kommt. Beim ersten Anblick des Gletschers an diesem Tag waren sie dennoch erschüttert vom Ausmass des Abbruchs. Denn dort, wo nun Eisblöcke in der Grösse von Kleinwagen liegen, haben sie letzte Woche noch gearbeitet.

Jauch, der sein schmales Gesicht lieber hinter dem Feldstecher verbirgt und schweigt, als dass er erzählt, meint irgendwann, es sei gar nicht so einfach, zur richtigen Zeit unter einem Steinbruch oder einem Gletscherabbruch zu sein. Steinschlag und Gletscherabbrüche sind nur einige der Gefahren, die sein Hobby mit sich bringt. Die Suche führt oft an exponierte Stellen, an denen ein Fehltritt tödlich sein kann. Und auch wenn die Strahler im Kanton Uri nicht mehr sprengen dürfen, um an die Mineralien zu kommen, bleibt das Bearbeiten von Fundstellen heikel. So ist in der Vergangenheit schon dem einen oder andern, der kopfüber in einer Kluft arbeitete, langsam der Sauerstoff ausgegangen.

Der Gletscherabbruch sei ohnehin das Beste, was habe passieren können, sagt Jauch später. So bleibe die erst teilweise bearbeitete Kluft, in der sie einige perfekte Rauchquarzgebilde hätten abtragen können, bis zur nächsten Saison verschlossen. Der Inhalt einer geöffneten Kluft gehört zwar dem Finder, wenn er den Eingang mit Initialen, Patentnummer, Jahreszahl und liegengelassenem Werkzeug markiert hat. Gestohlen wird trotzdem. So konnten Jauch und Müller diesen Sommer aus der Ferne beobachten, wie Fremde vor der Kluft eines Kollegen Steine in Plastiksäcke packten – ein Fall für den Strahlenaufseher, der sie im Tal abpasste. Die vielen lokalen Strahler, die die beiden im Laufe des Tages durch ihre Feldstecher erspähen und meist am Gang oder an der Figur erkennen, sind allerdings kein Grund zur Aufregung. «Die soziale Kontrolle funktioniert», sagt Müller. Die lokalen Strahler kennen sich zu gut, als dass sich einer in eine fremde Kluft wagen würde. Auch im weglosen Gebiet, jenseits der markierten Bahnen, in die die Abenteuerlust der Massen kanalisiert wird, wird also für Ordnung gesorgt. Ursprünglich wurde die Mineraliensuche in Uri auch reguliert, um die heimatlichen Bodenschätze zu sichern. 1811 beschloss die Landsgemeinde, dass weder Fremde noch Niedergelassene im Kanton strahlen dürften. Heute dürfen in den beiden Kantonskorporationen Uri und Urseren auch Auswärtige ein Strahlerpatent lösen, nur bezahlen sie mehr als Einheimische.

Seltene Sensationsfunde

Müller zieht wie so oft noch an diesem Tag etwas braunes Tabakpulver die Nase hoch, dann werden die Rucksäcke geschultert, weiter geht es, von Felsblock zu Felsblock. Je tiefer wir in die unwirtliche Felslandschaft vorstossen, desto klarer wird, dass wir uns keineswegs in der unberührten Natur bewegen. Hier taucht eine rostige Konservendose auf, die von einem anderen Zugang zur Natur erzählt, dort markiert ein H aus Steinen einen Helikopterlandeplatz, und weit über uns prangt ein schwarzes Loch in der Wand, eine historische Kluft, die 1867 geöffnet wurde, wie die Strahler erklären. Irgendwann stehen wir vor einem ziemlich unscheinbaren Loch in einem Felsbrocken, einer Kluft, die nicht mehr bearbeitet wird, wie die verblasste Jahreszahl auf dem Stein verrät. Auch wenn es hier kaum noch etwas zu holen gibt, rammen die beiden munter Wanderstock und Pickel in den Schutt vor dem Loch und durchwühlen damit den Boden. Im Nu kommen einige Quarzkristalle hervor, die in einer Pfütze grob gewaschen werden. Kleine Zapfen sind es, manche nur so gross wie eine Fingerkuppe.

«Arme-Leute-Strahlen sagen wir dem», erklärt Müller. Vor ein paar Wochen gingen bei ihm an der Mineralienbörse in Altdorf Rauchquarzgebilde für über 3000 Franken über den Tisch. Die Überbleibsel hier wären vielleicht in der Fünffrankenkiste gelandet, wenn überhaupt. Doch er habe auch Freude an einem solch kleinen Spitz, sagt Müller und wischt mit seinem Daumen den Dreck von einem Kristall. Wegen des Geldes könne man nicht Berufsstrahler werden, fährt er fort. Zu lange seien die Durststrecken, Sensationsfunde seien zwar möglich, aber unwahrscheinlich. Müller spricht denn auch kaum vom finanziellen Wert seiner Funde, sondern lieber von seiner Faszination für diese Wunder der Natur und von diesem Gefühl, einen Millionen Jahre alten Kristall als Erster zu sehen.

Zum ersten Mal erlebte er das als Zwanzigjähriger, als er mit seinem Bruder in einer Kletterroute etwas von der Linie abkam und per Zufall auf eine Kristallkluft stiess, die sich als wahre Goldgrube herausstellte. Im Gegensatz zu Jauch, den er beim Gleitschirmfliegen kennenlernte und ins Strahlen einführte, sei er schon erblich vorbelastet gewesen, meint Müller: Der Vater war bereits Strahler, wie bei vielen. Heute wird das Handwerk zwar nicht mehr ausschliesslich vom Vater an den Sohn weitergegeben, doch ist es fest in Männerhand geblieben. Von den 79 Patenten in der Korporation Urseren, wo der Tiefengletscher liegt, lautet lediglich eines auf den Namen einer Frau.

Eine Nacht in der Villa Erotica

Was die beiden Urner antreibt, sind nicht nur die Kristalle, sondern auch das Gefühl von Weite und Freiheit in den felsigen Höhen. An diesem Abend geniessen die beiden bei Bier und Brissagos auf einer Steinbank die letzten Sonnenstrahlen. Hier plant das Strahler-Team, zu dem auch Müllers Bruder Kurt und der Neffe Emanuel Regli gehören, jeweils, wer am nächsten Tag wo sucht, wer welche Kluft bearbeitet. Der Aussichtspunkt mit Steinbank ist quasi das Vorzimmer zur Villa Erotica. So heisst ihr Biwak, das wie ein Adlerhorst in einer Felswand thront. Die Aussicht von dem von einer Steinmauer geschützten Vorplatz ist hier das eine. Das andere ist die uralte Kluft, die vermutlich vor über hundert Jahren geöffnet wurde und nun Schlafzimmer, Küche und Vorratsraum in einem ist.

In der gut einen Meter hohen Höhle, die einst mit Kristallen gefüllt war, befindet sich eine grosse Holzpritsche als Viererbett, und auf Regalen an der Felswand stehen Gasherd und Pfannen, Bratfett und Geschirr und zuvorderst in einer Reihe beim Ausgang die Schnapsauswahl. Weiter hinten ist das Getränkelager mit Cola, Bier, Panaché und Wein, beim Eingang das Werkzeuglager, und in einem Spalt in der Wand sind fein säuberlich Zahnbürsten und Crèmetuben versorgt. Alles hat seinen festen Platz hier, nichts fehlt.

Seit bald zwanzig Jahren kommen die Strahler hierher, mit der Zeit ist es immer wohnlicher geworden. Lange drang bei Regen Wasser in die Kluft, was auch ausschlaggebend für ihren Namen war. Als die Männer eines Morgens ihre feuchten Kleider auszogen und nur noch in Unterhosen auf dem Vorplatz standen, war da plötzlich dieser Name: Villa Erotica. Dank einer Regenrinne über dem Eingang und einer PVC-Folie an der Decke der Kluft tropft es nun nicht mehr in der Nacht. Und dieses Jahr hat Jauch, der pensionierte Abwart, gar einen kleinen Besen hochgebracht. Nun stellt er, der von Müller liebevoll «Sepp, unser Erfinder» genannt wird, einen selbstgebastelten Tisch zusammen. Vier unterschiedlich lange Holzstöcke müssen in das richtige Loch im unebenen Felsboden, Schieferplatten kommen als Querverstrebungen dazu und zum Schluss das Tischblatt obenauf. Danach folgt der obligate Anruf zu Hause. Dabei geschieht das wirklich Gefährliche hier oben jeweils nach der Dämmerung: Wenn die beiden in einem Biwak von befreundeten Strahlern etwas weiter unten einen über den Durst trinken und dann «mit einem am Sender», wie sie es nennen, über die ausgesetzten Felspartien nach Hause kraxeln, ist das wohl der gefährlichste Teil ihres Abenteuers.

Heute jedoch ist Gemütlichkeit angesagt. Zum Abendessen gibt es Fondue, und zwar mit einem ganzen Knoblauch – so etwas darf man hier oben. «Hast du die Pfanne exzentrisch, Bruno?», fragt Jauch seinen Freund, der die Bratpfanne mit der gelben Käsemasse nicht ganz in der Mitte des Herdes hält. Es ist einer dieser wenigen, knappen Sätze zwischen den beiden. «Ich bin eben kein guter Geschichtenerzähler», meint Jauch. An einem Abend würden auch einmal nur zwanzig Sätze ausgetauscht. Dafür sei in all den Jahren auch noch nie ein böses Wort gefallen, so Jauch. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Wo man gemeinsam sucht, lange nichts findet und irgendwann einen wertvollen Fund macht, kann es leicht zu Streit kommen. Trotz aller Verbundenheit ist die Szene auch von Missgunst und Verschlossenheit geprägt. Informationen über Funde werden meist gut gehütet, aus Angst vor allfälligen Dieben, den Steuerbehörden oder weil man die Massen nicht auf den Geschmack bringen möchte.

Dass sie ihr Handwerk gerne zeigten, passe auch nicht allen, sagt Müller. Als Ausverkauf der Heimat sehen das die einen. Er dagegen betrachtet das Strahlen als Kulturgut, über das durchaus berichtet werden soll. Und wenn das Interesse für die Kristalle geweckt werde, diene das auch den Verkäufen. Gerade im mittleren Preissegment bis tausend Franken sinken die Preise nämlich. Die Mineralienausstellung im Wohnzimmer ist heute nicht mehr besonders chic, aufgelöste Sammlungen kommen auf den Markt, zudem sind die Sammlungen der geologischen Institute weitgehend komplett. Stücke von Topqualität sind auf dem internationalen Markt dagegen sehr gefragt. Postet Müller einen schönen Rauchquarz auf Facebook, kommt oft von irgendwoher ein «Please price per private message», eine Aufforderung, einen Preisvorschlag zu schicken. An die richtig guten Käufer kommt er trotz Social Media nicht wirklich heran. Diese würden in München, an der wichtigsten europäischen Mineralienmesse, von den internationalen Händlern mit Champagner umgarnt, erzählt Müller bei Wein aus dem Tetrapak, der hier in der Kälte auf dem Kocher etwas temperiert wurde. Er weiss auch von Kristallen, die in Uri für ein paar tausend Franken verkauft wurden und später für Summen im sechsstelligen Bereich den Besitzer wechselten. «Wenn der Preis für mich stimmt, kann mir das egal sein», sagt Müller. Für ihn geht die Rechnung auf, die Sommermonate sind finanziell durch die Suche gedeckt. Und je weiter der Abend fortschreitet – sogar Jauch beginnt irgendwann zu erzählen –, desto klarer wird, wieso ihn der Neid nicht packt.

Ein guter, heisser Sommer

Am frühen Morgen ersetzen die grellen Pfiffe der Bergdohlen den Wecker. Schon vor dem Sonnenaufgang kommen sie zum Frühstück, picken übrig gebliebene Brotmocken mit Käse aus der Fonduepfanne. Als die Sonne schliesslich über einem Bergkamm in der Ferne aufgeht, scheint sie auch gleich in die hinterste Ecke der Kluft, wo sich Müller auf seinen Kollegen wirft, dem Besuch eine kleine Show bietet. «Bromance» würde man es in den urbanen Zentren vielleicht nennen, wenn sich zwei ältere Männer im Schlafsack tollen wie im Klassenlager. Hier oben dagegen heisst das noch Kameradschaft. Dass die beiden sich ausserhalb der Strahlersaison kaum sehen, obwohl sie im gleichen Dorf wohnen, ist schwer zu glauben.

«Hier oben schläft man schon nicht wie ein Murmeltier», meint Müller dann zu dieser Nacht, in der sich immer wieder jemand wendete, manchmal alle gleichzeitig wach waren. So etwa, als ein Zischen durch die Höhle schoss, Müller aus Versehen ein Bier und nicht ein Panaché aus dem Getränkelager fischte. «Das habe ich auch noch nie, Bier getrunken, mitten in der Nacht», sagt er. Und wieder ist da diese jugendliche Freude über die gelebte Freiheit, in der ganz unverhohlen auch Stolz mitschwingt.

Nach dem Frühstück wird provisorisch eingewintert. Die Vorräte werden aussortiert, die vier blauen Fässer mit Kleidern und Schlafsäcken kommen in den Schutz der Kluft, nur die Kanister mit Regenwasser, die bei grosser Kälte zerbersten könnten, werden am Ende doch nicht geleert. Und mit dem Wasser bleibt auch die Hoffnung zurück, dass es vor dem grossen Schnee noch einmal ins Biwak reicht. Dann kann es losgehen zur Arbeit an einer Kluft, die im letzten Sommer noch unter dem Eis verborgen lag.

Über den Gletscher erreichen wir einen Abschnitt mit massigen Felsblöcken, die zwischen der Gletscherzunge und einem eisigen Überbleibsel im Hang liegen. Zwischen zwei ineinander verkeilten Felsblöcken klettern die Strahler hindurch, an einem Felsblock wird ein blaues MB sichtbar. Beschriftet wird hier, wie man sich vorstellt: Müller, Bruno. Unter der Markierung liegt ein kleines Depot an Kristallen, Wackelkandidaten, bei denen die Strahler nicht sicher waren, ob sich das Heruntertragen lohnt. «Heute gefällt mir dieser schon besser», sagt Müller mit einem Kristall in der Hand, der vom Regen inzwischen sauber gewaschen wurde.

Während eine in der Kluft verstaute Matte an der warmen Herbstsonne trocknet, werden die Steine in Zeitungspapier eingewickelt und in einem Plastiksack verstaut. Wie immer ist es dieser eine Sack von Ochsner Sport. War dieser dabei, hatte Müller stets Glück. Während Jauch über das Thema Aberglaube und die Überzeugung, dass Steine irgendwelche Kräfte hätten, nur den Kopf schüttelt, glaubt Müller, dass da durchaus etwas dran ist. «Aber wie beim Placebo ist der Glaube die halbe Miete», meint er und fügt hinzu, dass Frauen diesbezüglich vielleicht etwas empfänglicher seien. Unter Strahlern ist der Glaube an Heilkräfte oder Energien der Steine eher verpönt. Und doch trägt so mancher einen Stein im Hosensack oder um den Hals, als Talisman.

Kurz darauf liegt Müller kopfvoran in der Kluft, die vielleicht fünfzig Zentimeter hoch und kaum breiter als er selbst ist. Mit einer Harke schafft er erst Schutt aus dem Loch und arbeitet sich so im Hohlraum vor. Bäuchlings, den Oberkörper nach hinten gekrümmt, macht er sich dann mit Meissel und Hammer an die Decke, schlägt Steine vom Mutterfels, der sogenannten Matrix. Jauch, der neben der Kluft wartet, um Werkzeug zu reichen, erklärt, dass er mit seinen 65 Jahren nicht mehr gerne in kalte, nasse Löcher krieche. Die Arbeit ist nicht nur streng, sondern verursacht auch Rheuma. Schon bald kann er Steine im Halbminutentakt entgegennehmen. Einige haben an den Seiten treppenähnliche Stufen, eine begehrte Qualität. Und dann tut sich etwa zwei Meter im Innern, wo Müller das Ende der Kluft vermutete, erst noch ein weiterer Hohlraum, eine sogenannte Tasche, auf.

Während sich Müller mit einer Harke zu diesem Hohlraum vorkratzt, macht sich Jauch weiter oben am Hang auf die Suche. Gut zwanzig Meter über der Fundstelle entdeckt er unter einem Flecken Schnee eine weitere Kluft. Neben dem Eingang wird ein JS mit rotem Nagellack angebracht, die Stelle muss bis nächstes Jahr warten, denn Jauch hat Hunger. «So, komm jetzt», ruft er seinem Kollegen zu.

Beim Abstieg ins Tal zeigen sich die beiden zufrieden mit diesem Herbsttag am Ende der Saison. Die vielleicht fünf Kilogramm, die sie hinuntertragen, sind zwar ein bescheidener Ertrag. An guten Tagen wiegt der Rucksack auch einmal 35 Kilogramm. Doch die beiden hatten keine grossen Hoffnungen mehr, dass die Kluft noch etwas hergeben würde. Ohnehin war der Ertrag gut in diesem Hitzesommer, in dem sie manchmal eine ganze Woche oben im Biwak blieben. Dass im katholisch geprägten Uri das Strahlen am Sonntag verboten ist, kam ihnen dabei ganz gelegen. So führte sie ihre Leidenschaft nicht in die Erschöpfung. Zu Hause werden die Steine nun gewaschen und zusammen mit den anderen Funden der Saison im Team aufgeteilt, alle erhalten gleich viel. Und irgendwann rufen dann die internationalen Händler an.

Box

Einst hielt man Kristalle für unschmelzbares Eis

Bereits in der Antike wurde in den Alpen gezielt nach Kristallen gesucht. So beschreibt Plinius der Ältere 77 n. Chr. in seiner Enzyklopädie zur Naturkunde, wie man an die Kristalle oft nur an Seilen hängend herankam. Damals hielt man die Kristalle noch für tiefgefrorenes, unschmelzbares Eis. So heisst das altgriechische Wort «krystallos» etwa so viel wie Eiseskruste. Die Kristallsuche, die zunächst von Hirten und Bergbauern als Nebenverdienst betrieben wurde, war von Beginn an eng mit dem internationalen Handel verbunden. Im Mittelalter wurden Schweizer Kristalle fast ausschliesslich als Schleifware für Kristallgläser, Kronleuchter oder Kruzifixe ins Ausland verkauft. Spätestens als die Mineralogie im 19. Jahrhundert populär wurde und auch Wissenschafter und Sammler bekannte Fundgebiete aufsuchten, wurde nicht mehr nur zu Schmuck- und Prunkzwecken gesammelt, sondern auch aus naturwissenschaftlichem Interesse. Neben schön geformten Kristallzapfen wurden nun auch feinhaarige Amiante attraktiv oder Hämatite, welche blasenförmig auf dem Mutterstein wachsen.

Der Abbau von Mineralien wird durch kantonale oder kommunale Richtlinien und damit sehr unterschiedlich geregelt. Sprengen etwa ist nur in einigen wenigen Gebieten mit Sprengausweis und Spezialbewilligung erlaubt und aufgrund des Naturschutzes auch umstritten. In vielen Gebieten erfordert bereits der gezielte Abbau mit Handwerkzeug ein kostenpflichtiges Patent. Ein Ehrenkodex der Schweizerischen Vereinigung der Strahler, Mineralien- und Fossiliensammler hält weitere Verhaltensrichtlinien fest. So müssen Strahler etwa beim Verkauf korrekte Auskunft über den Fundort und allfällige Veränderungen am Stein geben. Denn Kristallgruppen können durch Leimen, Beheizung oder Bestrahlung auch gefälscht werden. Funde im Bergbau gehören nicht dem Finder, sondern dem Kanton oder der Gemeinde und müssen gemeldet werden. Der beim Bau des Gotthard-Basistunnels beauftragte Urner Mineralienaufseherkonnte 53 verschiedene Mineralien aus 250 Klüften bestimmen und erwischte auch einige Mineure mit Kristallen in den Rucksäcken.

Gestrahlt wird heute hauptsächlich in den Urner, Berner und den östlichen Walliser Alpen. Diese gehören zum Aarmassiv, das besonders reich an Klüften ist. International besonders gefragte Schweizer Mineralien sind Rauchquarze und Rosenfluorite, die sich in den hiesigen Alpen in einzigartiger Qualität bildeten. Als grösster und bedeutendster Kristallfund weltweit gilt eine 1,5 Tonnen schwere Kristallgruppe, die die Berufsstrahler Franz von Arx und Elio Müller am Planggenstock oberhalb der Göscheneralp fanden. Der Fund aus dem Jahr 2008 ist heute im Museum Sasso San Gottardo ausgestellt. Eine weitere Riesenkristallgruppe vom gleichen Fundort, die für 4,5 Millionen Franken die Besitzer wechselte, ist im Naturhistorischen Museum Bern zu sehen. Neben lokalen Mineralienmuseen gibt es seit diesem September ein Museum, das sich der Tätigkeit der Strahler widmet, das Schweizer Strahlermuseum in Naters.