als PDF lesen

Erschienen in: NZZ, 19.08.2016

Der befreite Busen

Oben ohne galt lange als Akt der weiblichen Selbstbestimmung. Heute ziehen Frauen ihr Oberteil fast nur noch in getrennten Badebereichen aus. Zeichen neuer Prüderie? Oder der sexuellen Übersättigung?

Barbusig schreitet sie über das Schlachtfeld, in der einen Hand die französische Tricolore, in der anderen das Bajonett; die französische Nationalfigur Marianne. Mit dem Gemälde «Die Freiheit führt das Volk» machte Eugène Delacroix 1830 die nackte Brust zum Symbol der Freiheit. Dass die Revolution vor allem Männer gleicher machte, geht beim Anblick des kräftigen Busens leicht vergessen.

Die sichtbare Brust war für Europa im Grunde gar kein Novum. Bis zum 18. Jahrhundert tauchten an verschiedenen Höfen Kleider auf, die eine oder beide Brüste frei li›essen, wobei die in der Öffentlichkeit gezeigte Brust meist Adligen und Mätressen vorbehalten blieb, ganz im Gegensatz zu anderen Kulturkreisen. Im indischen Gliedstaat Kerala zum Beispiel erhielten Frauen niedriger Kasten erst 1858 das Recht, ihre Brust zu bedecken. Im Westen hingegen musste sich die Brust nach den strengen viktorianischen Kleidungssitten ihren Platz an der frischen Luft Schritt für Schritt zurückerobern, und nicht nur die weibliche; noch in den dreissiger Jahren wurden in den USA badende Männer ohne Ganzkörperanzug festgenommen.

Sex-Ikone als Vorbild

1964, die Empörung über den Bikini war inzwischen abgeflaut, glaubte der Modeschöpfer Rudi Gernreich in den USA mit seinem Monokini, eine Reduktion des Bikinis auf ein Unterteil und zwei Nackenschnüre, ein Symbol für die starke, ungehemmte Frau gefunden zu haben. Der Entwurf, der den Blick auf den blossen Busen frei liess, setzte sich allerdings weniger am Wasser als in Topless-Etablissements durch.

Ein anderes Symbol löste die Oben-ohne-Welle aus: Brigitte Bardot, die sich am Strand von Saint-Tropez mit nichts als einem Unterteil zeigte. 1968, als Feministinnen in den USA mit der Entsorgung ihrer BHs den Begriff «bra burning» prägen und Studentinnen in einem Hamburger Gerichtssaal mit nacktem Oberkörper gegen «obrigkeitsstaatliches Denken» protestieren, wird Bardots Antlitz zur Vorlage für die Marianne-Büsten in Frankreichs Rathäusern gewählt. Die Freiheit dieses nackten Busens, der die sexuelle Revolution an den Strand gebracht hat, scheint ambivalent.

«Wenn die kann, können wir auch», beschreibt die 83-jährige Doris Walser die Reaktion ihres feministischen Umfelds auf die Bilder von Bardots nacktem Oberkörper. Es war ein Paradox, dass gerade die Sex-Ikone zum Vorbild für das Oben-ohne wurde, diesen Ausdruck weiblicher Selbstbestimmtheit und Gleichberechtigung. Noch Anfang der Siebziger wurde der Zürcherin im dörflichen Bassersdorf wegen ihres fehlenden Oberteils mit einem Rausschmiss aus dem Freibad gedroht. Walser zog sich mit ihren Freundinnen bald in die Frauenbadeanstalt Zürich zurück. «Als Erste ohne Oberteil waren wir quasi Freiwild, und bald präsentierten sich auch Frauen oben ohne, um Männerblicke auf sich zu ziehen», erzählt Walser vom schalen Nebengeschmack.

Politische Kampfzone

Der «Spiegel» beschreibt 1978 ausführlich den Trend, der sich trotz Protesten und Festnahmen an Europas Stränden ausbreitet, und konstatiert: «Für italienische Playboys ist es Pflicht, mindestens eine hüllenlose Dame topless an Bord zu haben.» Angesichts vieler entblösster Brüste im Marzili-Bad, dem Schweizer Mekka des Oben-ohne, lanciert die Berner EDU eine kantonale Volksabstimmung «gegen die Verrohung der Badesitten». Derweil berichtet die NZZ im verregneten Sommer regelmässig, aber relativ unaufgeregt über die neue Mode und wertet die entblösste Brust quasi als Indikator gesellschaftlicher Offenheit: «Es ist nicht zu fassen. Reagieren die Berner plötzlich schneller als die Zürcher?»

Barg das Entblössen der nackten Brust anfänglich Potenzial zur sozialen Distinktion, wurde das Herunterrollen des Badeanzugs im Laufe der achtziger Jahre zum Mainstream. Dabei war der nackte Strandbusen keineswegs zur unproblematischen Zone geworden. 1995 entschlüsselte der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann die zahlreichen Regulierungen hinter der scheinbaren Selbstverständlichkeit, mit der Oben-ohne praktiziert wurde; von der proportional zur Schlankheit steigenden Bewegungsfreiheit bis zum Verbot des langsamen Eincremens. Wo der entblösste Busen bei bedecktem Himmel oder das Ballspiel mit grossen, nackten Brüsten als unangebracht empfunden wurden, sichtbare Brustwarzen ein Hindernis zur Kontaktaufnahme und Kinder ein Argument für das Bedecken der Brüste waren, mutete die grosse Freiheit des emanzipierten Busens plötzlich sehr klein an.

Der Busen als Info-Panel

Mitte der neunziger Jahre, als Busenwunder wie Pamela Anderson Karriere machen, stellt Kaufmann an den französischen Küsten ein Abflachen des Oben-ohne-Trends fest. Die scheinbar entpolitisierte nackte Brust ist an den Stränden, in den See- und Freibädern immer seltener zu sehen, nach der Jahrtausendwende wird sie zunehmend zum Politikum. 2004 wird eine Brustwarze, Kristallisationspunkt symbolischer Aufladungen, zur Kampfzone erklärt: Die kurz hervorblitzende Brust von Janet Jackson bei ihrem Pausenauftritt am Super Bowl, dem Final der US-Football-Profiliga, ist für das prüde Amerika zu viel: Seit dem sogenannten Nippelgate wird die Show mit fünf Sekunden Verzögerung übertragen. 2010 erlebt die politisch instrumentalisierte Brust in Kiew ihr grosses Revival: Zum ersten Mal nutzen ukrainische Femen-Aktivistinnen ihre nackten Oberkörper als Info-Panels im Kampf für Frauenrechte, doch das Tauschprinzip nackte Haut gegen Aufmerksamkeit vermag die Logik der kritisierten Sexualisierung des weiblichen Körpers nicht wirklich zu brechen.

Schlüssiger lesen sich barbusige Kämpfe für das Recht, öffentlich Brüste zu zeigen: 2007 kämpfen Schwedinnen der Organisation Bara Bröst mit nacktem Busen für gleiche Oberkörper-Rechte in Hallenbädern, und in den USA ruft die Organisation GoTopless zu Oben-ohne-Märschen auf, nachdem in New York, wo topless in der Öffentlichkeit seit 1992 erlaubt ist, eine Frau ohne Oberteil zu Unrecht verhaftet worden ist. In Genf, wo ein Gesetzesartikel aus dem Jahr 1929 geschlechterangemessene Badekleidung vorschreibt, ist für Ende August bereits die vierte GoTopless Pride geplant, mit abgeklebten Brustwarzen, als Zeichen der gesellschaftlichen Zensur. Ob sich wie letztes Jahr eine komplett verhüllte Muslimin mit den Oben-ohne-Protestierenden ablichten lässt?

Das züchtige Facebook

Kämpfe um die nackte Brust werden auch von und gegen Internetkonzerne geführt: 2008 verzichtet Facebook nach heftigen Protesten und öffentlichen Stillaktionen darauf, Fotos von stillenden Müttern zu zensieren. Sechs Jahre später geht Scout Willis, Tochter von Demi Moore und Bruce Willis, mit nacktem Oberkörper durch New York, nachdem ihr Instagram-Account wegen nackter Oberkörper gesperrt worden ist. Die Pop-Sängerin Rihanna erscheint aus gleichem Anlass im durchsichtigen Kleid an einer Gala – Aufmerksamkeit ist ihr gewiss. Was Facebook im Netz schafft, geht in Europa auch analog: 2012 wird am Flughafen von Edinburgh ein Ausstellungsplakat mit einem Aktbild von Picasso verhüllt, 2016 sind es antike Frauenstatuen in Rom anlässlich des Besuchs des iranischen Präsidenten Rohani.

Im Sommer 2016 gleichen die Schweizer Badeanstalten und Seeufer den zensierten Internetplattformen, statt schwarze Balken sind es Bikinioberteile und Badeanzüge, die die Busen bedecken. Der ältere Busen am Basler Rheinufer, die junge Frau in der Unterhose am frühen Morgen an der Zürcher Limmat haben Seltenheitswert.

«Sie können wochenlang suchen, zu sehen gibt es gar nichts mehr», bestätigt Franco Seiler, Leiter des Zürcher Strandbads Mythenquai. Er ist seit 1983 Bademeister und hat den schleichenden Rückgang des Oben-ohne bei der Arbeit beobachtet. Mit sichtlichem Vergnügen erzählt er aus einer Zeit, in der auch die Männer immer mehr Haut zeigten, vom Tanga-Verbot im Strandbad Tiefenbrunnen, von Spannern mit Fotoapparaten, die jeweils schnell entdeckt wurden, und von Frauen, die im Restaurant ohne weiteres ohne Oberteil Platz nahmen. Mit der aufkommenden Diskussion um das Hautkrebsrisiko habe das Oben-ohne in den neunziger Jahren langsam abgenommen. Nicht nur die Abkehr vom Ideal des nahtlos tiefbraunen Körpers sei für das vermehrte Bedecken der Brust verantwortlich: «Die Leute bewegen sich auch schamhafter als früher. Angefangen hat es mit dem Tüechli um die Hüfte, heute ziehen auch Männer ein T-Shirt an, um am Kiosk ein Eis zu kaufen.»

Ist das Mehr an Textilien wirklich ein Zeichen neuer Prüderie? «Fast wichtiger noch erscheint mir die Scham, den Körper so zu zeigen, wie er ist», sagt Caroline Arni, die als Geschichtsprofessorin an der Universität Basel zur Frauengeschichte forscht. Sie sieht in der Entwicklung auch eine Reaktion auf die Hypersexualisierung und die zunehmende Optimierung und Normierung des Körpers. Während Porno-Material früher primär von Männern konsumiert wurde, werden heute auch junge Frauen unweigerlich mit Bildern von sexualisierten, normierten Frauenkörpern konfrontiert. Und wo der fitte Körper immer mehr zum Kapital wird, geht man weniger ungezwungen mit ihm um. Auch das Bild der absoluten Ungezwungenheit des Oben-ohne relativiert Arni: «In den Achtzigern machten die Frauen einmal oben ohne, einmal nicht, und doch hatte es eigentlich nicht die gewünschte Selbstverständlichkeit. Die weibliche Brust ist symbolisch so sehr aufgeladen, dass man immer ein Statement macht, ob man sie bedeckt oder nicht.»

Nicht auffallen wollen

Das Bedürfnis nach Sonne und Wind auf der nackten Brust, dem am Oberkörper vorbeigleitenden Wasser ist nicht einfach verschwunden. In separaten Frauenbadeanstalten und -abteilen sieht man immer noch Frauen ohne Oberteil. Wieso ziehen sie es anderswo nicht mehr aus? In der vor Blicken nicht wirklich geschützten Frauenbadeanstalt an der Zürcher Limmat lautet die Antwort der Oben-ohne-Badenden praktisch unisono: «Weil es sonst niemand macht.» Nur eine 32-jährige Krankenpflegerin findet, dass ihr Busen unter Männern das Sittlichkeitsempfinden verletzen würde, und drei Frauen zwischen 60 und 80 diskutieren über die alte Brust.

«Ich würde schon überall oben ohne machen, aber ich gehe nicht in die Badi, um aufzufallen», sagt die 28-jährige Maya Rüegg. «Ich kann ja nicht jedem erklären, dass ich für Gleichberechtigung bin und nicht einfach meine Brüste zeigen will.» Auch unter Frauen ist der Umgang mit der nackten Brust alles andere als unbefangen. Eine junge Spanierin hätte ihre Kollegin an diesem Tag fast gefragt, ob es sie störe, wenn sie ohne Oberteil neben ihr sitze, eine andere Frau erzählt von Bekannten, die Oben-ohne im geschützten Rahmen üben wollen.