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Erschienen in: NZZ, 20.10.2017

Die gute Studentin trinkt Koffeinwasser

Studieren gleicht heute einem Hochleistungssport. Ein riesiges Wellness- und Unterstützungsangebot an den Unis hat den einzigen Zweck: die Selbstoptimierung.

An den Unis wird es langsam ungemütlich. Nicht weil man wegen steigender Studierendenzahlen für manche Vorlesungen früher aufstehen muss, um nicht im Hörsaal mit der Live-Übertragung zu landen. Ungemütlich deshalb, weil Studieren zunehmend auf messbare Performance ausgerichtet ist und Lernzeit als Mass für Qualität gehandelt wird. Dass ich um 8 Uhr schon in der Bibliothek sitze und vorher im Frühyoga war, darf ich ruhig auf Instagram dokumentieren. Denn eine strenge Arbeitsmoral ist nicht mehr verpönt.

Um das Lernen möglichst effizient zu gestalten, bedienen sich Studierende der Mittel der Selbstoptimierung, wie man sie aus den Bürolandschaften von Google und Co. kennt. Ein solches an Effizienz orientiertes, stromlinienförmiges Verhalten mag man als Abbild einer Leistungsgesellschaft deuten oder als Resultat des Bologna-Systems, welches komplexe Lernprozesse auf ECTS-Punkte à 30 Stunden Arbeitsaufwand herunterbricht. Das Vertiefen eigener Interessen wird so nicht gerade gefördert.

Hinter dem Optimierungsstreben steckt aber auch ein erhöhter Konkurrenzdruck: Da immer mehr Menschen studieren, wird in manchen Studiengängen härter selektioniert, zudem ist ein akademischer Abschluss kein ausreichendes Unterscheidungsmerkmal mehr auf dem Arbeitsmarkt. Kein Wunder, richtet man den Fokus auf den Prüfungsstoff, investiert auch einmal über die Semestergebühren hinaus für gute Noten und gleist die Berufskarriere schon früh auf. Wir stellen einige strukturelle Stützen für das perfekte Studium vor, wie man sie in Zürich vorfindet.

1. Scheuklappen zum Büffeln

Alles wird besser. Zumindest in der Bibliothek. Endlich muss man Bücher, Stifte, Tablet, Computer, Wasserflasche, Ohropax, Smartphone und Handcrème nicht mehr durch den Lesesaal balancieren, sondern kann das Material, das man zur Bewältigung des Workloads benötigt, einfach in einen Einkaufskorb packen, wie man ihn aus dem Supermarkt kennt. Wer hier ein Sinnbild der Ökonomisierung der Bildung sieht, muss zynisch sein. Schliesslich wird so nur für Ordnung gesorgt. Ordentlich geht es in den Bibliotheken ohnehin zu und her. Trotz allen Freiheiten wird vielerorts nach Bürozeiten gelernt, mit Arbeitsbeginn um 8 Uhr. Dies nicht zuletzt, weil der Platz gerade vor den Prüfungen knapp wird und manche Standardwerke umkämpft sind. Warum sich der Saal jeweils um Punkt 12 Uhr leert? Das ist wohl schlicht Schweizer Pünktlichkeit.

Aufgeräumt ist neuerdings auch die Innenarchitektur: In den Bibliotheken finden sich immer mehr Arbeitsplätze mit Trennwänden an Stirn und Seiten, die vor interessanten Blickkontakten schützen. Der Disziplinierungsklassiker aus dem Grossraumbüro ist übrigens äusserst beliebt, die Plätze mit den Scheuklappen sind immer zuerst besetzt. Wer braucht schon Weitsicht beim Lernen? Wer nun der Bibliothek als Flirtpflaster nachtrauert, hat wohl verpasst, dass man heute ohnehin online datet.

Ein Hinweis noch: Mit hohen Absätzen sollte man sich nicht in den Lesesaal wagen. Eine SMS-Hotline wie in der Bibliothek des King's College in London gibt es hierzulande zwar noch nicht. Aber auf Lärmemissionen kann auch aus den Lernboxen hinaus mit bösen Blicken reagiert werden.

2. Superfood als Studentenfutter

Mit Schnitzel und Pommes frites im Bauch erbringt man kaum Höchstleistungen. Das dürfte vielen bekannt sein. Wer sich nach all den Denkstrapazen aber nicht auch noch Gedanken über die Ernährung machen will, wird in der Mensa vor groben Fehlern bewahrt. Ein Ampelsystem mit Grün (für die Gesundheit), Gelb (für den Geist) und Rot (für die Lust) weist einem bei der Wahl des Menus den richtigen Weg.

Wer subtilere Antworten auf die Frage nach der optimalen Ernährung bekommen will, erhält diese in Lebensmittelgeschäften und Campus-Shops rund um das Hauptgebäude der Universität Zürich. Mit der veganen Kale-Ginseng-Kugel, dem Guarana-Shot oder einem Cashew-Mango-Plätzchen wird man bestimmt noch etwas produktiver. Oder soll es eher einer der vielen Mate-Drinks sein, die nicht nur wach, sondern auch schlank machen sollen? Ein Renner dürfte auch das kalorienfreie Koffeinwasser Klar werden, das von einem ETH-Spin-off entwickelt wurde. Denn es besteht aus nichts als Wasser und Koffein. Und falls alles nichts nützt: Ritalin hilft immer. Das ist an der Uni ein offenes Geheimnis.

3. Career-Speed-Dating

Der Berufseinstieg ist kein Zuckerschlecken mehr. So viel haben wir durch den Begriff «Generation Praktikum» gelernt. Was also tun, wenn nach dem Abschluss nicht zahlreiche Arbeitgeber um einen buhlen? Die Karriereplanung schon während des Studiums in Angriff nehmen! Aufforderungen dazu erhält man während des Studiums zumindest zur Genüge. Also wirft man sich in Schale und lernt an Absolventenkongressen und Recruiting-Anlässen, die auch einmal als «Kontaktparty» vermarktet werden, mögliche Arbeitgeber kennen.

Etwas lockerer begegnet man dem Thema an der Langen Nacht der Karriere, die jedes Jahr an vierzehn Hochschulen stattfindet: Hier passen Career-Speed-Dating, das Referat über den optimalen Linkedin-Auftritt, ein CV-Check und die Stilberatung gut in einen Abend. Wer abends lieber richtig Party macht, kann sich dank den Career-Services der Unis trotzdem auf das Berufsleben vorbereiten. An der Universität Zürich etwa definiert man in einem Workshop mit dem Titel *be you-nique* sein Markenzeichen, im Business-Knigge-Kurs stehen gute Manieren für Männer und Frauen auf dem Programm, und beim Speed-Selbstmarketing lernt man, in 30 Sekunden zu begeistern.

4. Arbeitsplatz mit Pflanze

Akademischer Erfolg ist in der Schweiz nicht käuflich. Mit etwas finanzieller Unterstützung kann man diesen aber wahrscheinlicher machen. Dies implizieren zumindest kostenpflichtige Nachhilfe und Angebote zum Korrekturlesen. Auf konkrete Vorlesungen zugeschnittene schriftliche Zusammenfassungen, vorgedruckte Lernkarten und Seminare von kommerziellen Anbietern, in denen man sich auf Prüfungen vorbereitet, sind in vielen Fächern üblich.

Gebüffelt wird auch schon vor dem ersten Tag an der Uni, man zahlt sogar dafür. So kann man sich auf das Assessment-Jahr für das Wirtschaftsstudium an der Universität St. Gallen, das jeweils gut 40 Prozent der Studierenden nicht bestehen, an der Kantonsschule Hottingen in Zürich an drei Morgen für 200 Franken vorbereiten. Und auch fürs selbständige Lernen wird in Zürich Geld ausgegeben. Im auf Studierende ausgerichteten Coworking-Hush beim Central erhält man für drei Franken pro Stunde einen Arbeitsplatz mit Kaffee und Pflänzchen. Einige Studierende gönnten sich solche Lerntage aus der Überlegung heraus, dass sie konzentrierter arbeiteten, wenn sie schon dafür bezahlten, erklärt einer der Gründer des Coworking beim Besuch.

5. Massageliegen für Power-Nap

Denkarbeit verlangt nach regelmässigen Pausen. Diese lassen sich unterschiedlich smart gestalten. Mit Zigaretten, Kaffee und Tratschen oder eben mit gezielten Erholungsmassnahmen. In den Relax-Räumen des Akademischen Sportverbands Zürich (ASVZ) kann man sich auf einer Massageliege per Knopfdruck in die Entspannung schütteln lassen oder einfach brav ein Mittagsschläfchen machen, was wir aus Respekt vor dem Ehrgeiz hinter der Müdigkeit heute ja Power-Nap nennen. Das gigantische Angebot des ASVZ, das über 120 Sportarten umfasst, deutet ohnehin auf das Bedürfnis hin, an der eigenen Gesundheit oder am Aussehen zu arbeiten. Doch Uni-Sport macht nicht zwingend fröhlicher. Vor einer Power-Yoga-Lektion starrten Studierende schon so bedrückt auf den Boden, dass ein älterer Herr jäh in die Stille rief: «Ihr seht ja alle so traurig aus!»

Das Angebot für gezielten Stressabbau lässt sich aber auch in Zürich noch ausbauen. Ein Vorbild könnte man sich am amerikanischen Wellesley College nehmen, wo Hillary Clinton studierte. Vor der Prüfungszeit wird auf dem Campus des Frauen-College jeweils ein Streichelzoo mit Ziegen und Eseln aufgebaut. Stress und Prüfungsängste können die Studierenden auch über kollektive Strickprojekte in der Bibliothek und die Hunde der Bibliothekarinnen abbauen.

Melanie Keim studiert in Basel und vermisst dort das riesige Sportangebot und die Massageliegen aus Zürich. Dafür verbringt sie Pausen häufiger mit guten Diskussionen.