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Erschienen in: NZZ, 9.08.2019

Er bricht das Schweigen

Robin Rehmann redet in seiner Radiosendung mit jungen Menschen über Pornosucht, Ritzen und das, worüber man sonst schweigt. Der Moderator zeigt selber auch einmal seinen künstlichen Darmausgang. Weil er an die heilsame Wirkung von Tabubrüchen glaubt.

Eine junge Frau sitzt im Radiostudio von SRF Virus, dem Sender des Schweizer Radios und Fernsehens, und erzählt, wie sie sich als Jugendliche selbst verletzte. Der Moderator, der ihr gegenübersitzt, fragt nach: Wie das kam mit dem Ritzen. Und, etwas später, ob man die Narben noch sehe. Die Frau hält spontan den Unterarm vor die Kamera, zeigt die Spuren dieser schwierigen Zeit in ihrer Jugend. Und Robin Rehmann kommentiert: «Auf so was gibt es dann wieder Mails von Leuten, die finden: ‹Geht’s noch? Rehmann zeigt im SRF Narben von Leuten, die sich geritzt haben!›.»

Seit bald vier Jahren lässt der 38-Jährige in der Gesprächssendung «Rehmann S.O.S. – Sick of Silence» junge Menschen zu Wort kommen, die vom Schicksal ausgebremst wurden – so heisst es auf der Website. Menschen, die sexuellen Missbrauch erlebten, an einer chronischen Krankheit leiden, mit einer Pornosucht oder dem eigenen Spiegelbild kämpfen, erzählen aus ihrem Leben. Und Rehmann zieht nicht die Samthandschuhe an, sondern fragt geradeheraus, wie das funktioniert mit der Sexualität im Rollstuhl und ob es als Kind nicht doof gewesen sei, nicht laufen zu können.

Für ihn sei das nicht anders, als mit jemandem über Fussball zu reden oder nach dem Haustier zu fragen, sagt er im Gespräch im Radiostudio Zürich: «Die Leute erzählen mir ihre Geschichte, weil sie das Gefühl haben, der versteht das.»

Der Wunsch, gehört zu werden

Wer in den nuller Jahren ein Teenager war, kennt ihn. Ja, das ist der Rehmann, der einst mit Irokese oder blondierter Gel-Frisur auf dem Musiksender VIVA Swiss vor keiner Peinlichkeit zurückschreckte. Rehmann, der in Laufenburg (AG) aufgewachsen ist, war früh fasziniert von Radio und Fernsehen. Rehmann stellt die Frage selbst in den Raum: Weil er sich zu wenig gehört fühlte als Sohn einer Alkoholikerin? Er erzählt, wie der Vater das Radio aufdrehte, wenn nach der Musik wieder die Stimme des Moderators zu hören war. Dort also musste er hin, um gehört zu werden! Und dort, vor dem Mikrofon, dreht der junge Rehmann nach der Diplommittelschule voll auf, provoziert und polarisiert. «Schlimmer als Crack in der Pausenmilch», schreibt ein Kritiker zu Beginn seiner Karriere.

Irgendwann stimmt Rehmanns Selbstbild nicht mehr mit dem Typen auf dem Bildschirm überein, der Britney Spears ansagt und Retorten-Bands Komplimente macht. So beginnt der Moderator 2006 sein Leben zu dokumentieren. Jeden Tag lädt er einen Handy-Film auf Youtube hoch, wo man ihn als Punk kennenlernt, der mit seiner Band Krank auftritt, seine Follower mit einem verkaterten «Guten Morgen, ihr Affen» begrüsst und nach einem Rülpser zu Gesellschaftskritik ansetzt.

2015, Rehmann ist inzwischen SRF-Moderator und als solcher unangepasst geblieben, folgt der Zusammenbruch. Drei Jahre zuvor wurde bei Rehmann Colitis ulcerosa diagnostiziert, eine Autoimmunerkrankung, bei der sich der Darm stark entzündet. Die Beschwerden erfolgen in Schüben, die nun so heftig sind, dass Rehmann seinem gewohnten Arbeitsalltag nicht mehr nachgehen kann.

In einem Radiointerview spricht er nun über all das, was er auch auf seinem Videoblog dokumentiert: über die 30 blutigen Stuhlgänge am Tag, die heftigen Krämpfe und die soziale Isoliertheit, die mit der Krankheit verbunden sind. Er erzählt, was hinter der Fassade des vorlauten Moderators steckt. Er spricht die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit an, erzählt von der Show, die er bereits als kleiner Junge abgezogen hat, um die belastenden Zustände zu Hause zu verdecken. Das kostet ihn Überwindung. Doch er ist überzeugt, dass über solche Tabuthemen nicht geschwiegen werden darf. Ihm hätte es als Jugendlichem wohl geholfen, mutmasst er, wenn er so etwas am Radio gehört hätte.

Er ist ein Punk geblieben

Warum entblösst sich einer so bis zur Schmerzgrenze? Steht dahinter der Narzissmus des Social-Media-Zeitalters? Rehmann fragt sich selbst, ob er das alles tut, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Er erzählt, wie er nach dem Radio-Interview überschwemmt wird mit Dankesschreiben von Menschen, die froh sind, dass endlich einer das Schweigen bricht. So entstehen Anfang 2016 auf seine Initiative fünf Pilotfolgen der Sendung, die heute jeden Montagabend als Audio- oder Videobeitrag ausgestrahlt wird.

Gäste musste Rehmann nur für die ersten Pilotfolgen suchen. Seither erhält er laufend Anfragen von jungen Menschen, die über ihre eigene Geschichte sprechen möchten – oder diese von einer Schauspielerin oder einem Schauspieler anonym erzählen lassen würden. Männer musste Rehmann noch nie ablehnen, da sich verhältnismässig wenige melden. Auf die Frage, wie er geeignete Gäste und Themen auswählt, reagiert Rehmann heftig. «Für Traumata gibt es kein Ranking!», sagt er und empört sich darüber, dass Krankheiten oder Schicksale so oft verglichen und gewertet würden. Er erklärt, dass er eine Psoriasis, eine Hautkrankheit, genauso ernst nehme wie eine Behinderung, die jemanden in den Rollstuhl zwinge.

Überhaupt redet er sich bei dem Treffen mehrmals in Rage. So empört er sich über Menschen, die jemandem mit einem chronischen Erschöpfungssyndrom oder einer Depression erklären, dass andere auch oft müde seien und man sich einfach zusammenreissen solle. Deshalb richtet sich seine Sendung nicht nur an die, die Ähnliches erlebt haben, sondern auch an all jene, die noch wenig sensibilisiert sind für seine Themen.

Weiterhin trägt Rehmann sein Leben aktiv nach aussen. Auf seinem VLOG dokumentiert er eine Operation zu einem künstlichen Darm in drei Schritten, er spricht über die Depressionen nach der ersten Operation und Glücksgefühle, als es bergauf ging. Er erzählt vom schwierigen Entzug von den Opioiden und seiner Arbeit als Hochzeits-DJ. Kürzlich zeigte er in einer Sendung auch sein neues Stoma, den künstlichen Darmausgang in Form einer kleinen Tasche unter dem T-Shirt.

Dass auch das nicht alle sehen wollen, weiss Rehmann. Wie reagiert er auf die Kritik? Indem er einen draufgibt: «Dann erzähle ich im nächsten Video erst recht, wie es sich anfühlt, in die Hosen zu scheissen!» Auch wenn er keine Energie mehr hat für die Auftritte mit seiner Punk-Band, ist ihm der Antrieb des Punks geblieben. Im Grunde sei die Gesellschaft krank, wenn kranke Menschen beweisen müssten, dass sie genug krank seien. Und dagegen schreit er an, laut, unzensiert, direkt.