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Erschienen in: NZZ, 08.02.2019

Frauen, beschreibt uns die Welt!

An Wikipedia kann jede und jeder mitschreiben. Doch die Enzyklopädie des 21. Jahrhunderts editieren vor allem Männer, die über Männer schreiben. Wie holt man mehr Frauen an Bord?

Die deutschsprachige Wikipedia zählt zurzeit über 2 249 000 Artikel. Viele von ihnen sind das Resultat einer so faszinierenden wie grausamen Arbeitsteilung. Da erstellt ein Freiwilliger einen ersten Text, ein anderer kürzt schonungslos, eine Dritte korrigiert eine veraltete Formulierung wie «Serviertochter», und ein Vierter löscht Stellen, die nicht durch Quellen belegt sind. Und irgendwann ist vom ursprünglichen Wortlaut gar nichts mehr vorhanden. Wer macht das mit? «Bei Wikipedia lernt man schnell loszulassen», erklärt Marco Zanoli. Der Geschichtslehrer schrieb vor über zehn Jahren seine ersten Wikipedia-Einträge zur Schweizer Geschichte, um gutes Recherchematerial für seine Schüler online zu erstellen. Damals war Wikipedia noch verpönt, und Kollegen belächelten ihn.

Heute arbeiten auch Staatsarchive und Bibliotheken mit Wikimedia, der Nonprofitorganisation hinter Wikipedia, zusammen. Und Zanoli beobachtet mit Genugtuung, wie historische Karten, die er als Sidonius serienweise für Wikipedia zeichnete, an Vorträgen an der Uni auftauchen.An diesem Abend nimmt Sidonius wieder einmal am Züritreff teil, dem monatlichen Stammtisch der Wikipedianer aus der Region. Im «Huusmaa», einem Lokal im Zürcher Kreis 4, sitzen bereits andere Wikipedia-Urgesteine. Etwa der Linguist, der in den späten nuller Jahren zu editieren begann, weil die Qualität der Artikel auf seinem Fachgebiet so schlecht war. Der Mann, der unter dem Namen Freigut editiert, erzählt, dass er fast jeden Abend Artikel zu Dialekten oder zur Sprachgeschichte editiert. Zeitweise sei er schon suchtgefährdet gewesen, sagt er. «Das kennt, glaube ich, jeder», meint sein Gegenüber. Viele begegnen sich hier zum ersten Mal, kennen aber die Nutzernamen der anderen. Denn für Einträge, die sich auf die Schweiz beziehen, ist die Szene relativ überschaubar. So wird etwa über einen Editor namens Tschubby diskutiert, diesen grossen Unbekannten, der unzählige topografische Karten für Wikipedia erstellt hat.

Männer erklären die Welt

Die Online-Enzyklopädie ist längst keine Spielwiese mehr, sondern gehört zu den fünf Websites, die weltweit am häufigsten besucht werden. Bei Suchanfragen auf Google werden Inhalte aus Wikipedia inzwischen prominent in einer separaten Box angezeigt.

Was auf Wikipedia steht, ist daher Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Das Ringen um die Definitionshoheit zeigt sich auch an diesem Abend in Zürich. Ein älterer Herr, der sich der Runde als Klimaskeptiker vorstellt, sucht hier Unterstützung gegen einen Editor, der auf Wikipedia Personen wie ihn als Klimaleugner bezeichnet. Mehrmals erhebt er sich und setzt zu einem Vortrag über den Klimawandel an. Doch an diesem Stammtisch sind Vorträge nicht erwünscht. Ein paar Mal wird es so laut, dass die restlichen Gäste im Lokal für einen Moment verstummen. Dann gibt der Mann auf.

Auffallend ist auch, dass an dem langen Tisch lediglich eine Editorin sitzt, neben neun Männern. Die Sprachlehrerin ist seit 2013 als Sarita98 auf Wikipedia aktiv. Sie ärgerte sich darüber, wie in der Enzyklopädie über Frauen geschrieben wurde. «Sie gebar ihm einen Sohn», las sie damals im Beitrag zur Schweizer Kommunistin Anneliese Rüegg. «Jetzt sind Frauen wie ich gefragt», sagte sie sich. Und stieg ein.

Es ist kein Zufall, dass an dem Stammtisch nur eine Frau teilnimmt. Letztes Jahr gaben in einer Umfrage von Wikimedia lediglich 9 Prozent der Editoren an, weiblich zu sein. Die Zahlen sind aus methodischen Gründen mit Vorsicht zu geniessen. Doch selbst wenn der Anteil bei 16 Prozent liegt, wie auch geschätzt wird, sind Frauen stark untervertreten. Es gibt verschiedene Gründe: dass Frauen weniger Zeit haben, weil sie mehr unbezahlte Arbeit leisten, der harsche, konfrontative Umgangston auf Wikipedia oder Berührungsängste gegenüber der Technik. Diese versuchte Wikimedia 2012 mit einer nutzerfreundlicheren Eingabefläche abzubauen.

Sue Gardner, ehemalige Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation, nennt als weiteren Grund, dass Beiträge von Frauen eher gelöscht oder rückgängig gemacht werden – von der männlich dominierten Community.

Frauen sind auf Wikipedia nicht nur als Schreibende, sondern auch inhaltlich untervertreten. 2018 waren in der deutschsprachigen Wikipedia lediglich 15 Prozent aller Biografien über Frauen, was nicht alleine auf Verzerrungen in der frühen Geschichtsschreibung zurückzuführen ist. Die Zahlen ändern sich nur wenig, wenn man lediglich die 330 000 Artikel über Personen, die in den letzten hundert Jahren geboren sind, berücksichtigt. Gemäss einer vom «Spiegel» durchgeführten Auswertung handeln nur 20 Prozent dieser Artikel von Frauen. Auch ist der Ausschnitt über Anneliese Rüegg exemplarisch für die stereotypen Geschlechterdarstellungen auf Wikipedia. So zeigten Studien, dass in Biografien über Frauen viel häufiger über Privates geschrieben werde und das Wort «divorced» in der englischsprachigen Wikipedia über viermal so oft in Artikeln über Frauen wie in solchen über Männer auftaucht.

Frauen editieren gemeinsam

Für eine diverse Online-Enzyklopädie, die nicht primär aus einer Männerperspektive geschrieben wird, haben Frauen weltweit Netzwerke gebildet und organisieren sogenannte Edit-a-thons: Wikipedia-Schreibwerkstätten, an denen gemeinsam Artikel über wichtige Frauen oder zur Frauengeschichte erstellt werden.
An einem Samstagnachmittag sind in einem Raum für Buchkultur in Zürich gut ein Dutzend Frauen zu einem solchen Edit-a-thon mit Fokus auf Frauen und Literatur zusammengekommen. Der Anlass wird von «Who writes his_tory?» organisiert, einem Kollektiv von Künstlerinnen, das mit Unterstützung von Wikimedia CH bereits seit drei Jahren Edit-a-thons organisiert. Daniela Brugger, Mitorganisatorin des Anlasses, führt zu Beginn kurz in die Frauenproblematik auf Wikipedia ein. So erwähnt sie das Beispiel der Frauenrechtlerin Marielle Franco, die erst nach ihrer Ermordung einen Eintrag in Wikipedia erhielt. Eine Teilnehmerin stellt den Namen Donna Strickland in den Raum, der letztes Jahr für Schlagzeilen sorgte. Die Nobelpreisträgerin hatte bei ihrer Nomination keinen Wikipedia-Eintrag erhalten, weil dieser zu einem früheren Zeitpunkt gelöscht worden war. Fehlende Relevanz lautete das Argument auch hier.

Brugger zeigt die Wikipedia-Seite mit den Relevanzkriterien und meint: «Ich würde mich von der Liste nicht einschüchtern lassen, sondern einfach mit Schreiben beginnen.» Ein Ziel an diesem Nachmittag ist es schliesslich, Hürden abzubauen.

Der erste Edit-a-thon fand 2012 im Hauptsitz von Wikimedia in San Francisco statt. Seither hat das Konzept, den Frauenanteil auf Wikipedia durch soziale Anlässe zu vermehren, an Fahrt gewonnen. In den USA finden inzwischen riesige Edit-a-thons in Institutionen wie dem New Yorker MoMA statt. Solche Anlässe seien in ihrem dortigen Freundeskreis ein grosses Thema, erzählt eine amerikanische Künstlerin am Workshop in Zürich. Sie wollte schon lange auf Wikipedia schreiben. Aus Angst, etwas falsch zu machen, blieb es jedoch bei winzigen Korrekturen. «Ich hatte das Gefühl, dass mir jemand über die Schultern schauen sollte», erklärt sie. Nun übersetzt sie mit einem Tool, das ihr Brugger gezeigt hat, einen Eintrag über eine deutsche Schauspielerin ins Englische.

Der Kampf um Relevanz

Mit einem Übungsstück beginnt auch eine Übersetzerin aus Winterthur. Sie übersetzt einen Artikel über das Hochzeitskleid von Diana Spencer ins Deutsche. Das sei der erste Vorschlag gewesen auf einer Liste mit noch nicht übersetzten Einträgen, meint sie lachend. Sie hat in den Medien über den Gender-Gap auf Wikipedia gelesen und anschliessend nach einem Edit-a-thon gesucht. Neben ihr diskutieren fünf Frauen, die in Winterthur, Zürich und Basel Frauenstadtrundgänge organisieren, ob sie nun für jeden Verein einen einzelnen Eintrag oder doch besser einen gemeinsamen Artikel erstellen sollten, damit die Relevanz grösser sei. «Ich glaube nicht, dass uns die männlichen Wikipedianer rauskicken», sagt eine von ihnen.

Die viereinhalb Stunden sind schnell vorbei. Das Ergebnis sieht auf den ersten Blick etwas mager aus. Erstellt wurde nur ein neuer Artikel über die Schweizer Schriftstellerin Bettina Gugger. Doch die Hauptsache ist, dass der erste Schritt gemacht ist.

Einige Tage später erstellen Schweizer Medienschaffende an einem von der Wirtschaftsjournalistin Patrizia Laeri angestossenen Edit-a-thon sechzig neue Wikipedia-Einträge über Frauen. Bei einem ersten Anlass von SRF, Ringier und Wikimedia CH im letzten November wurden ebenso viele neue Einträge über Frauen erstellt. Neun davon wurden von der Wikipedia-Community bereits wieder gelöscht. In den Diskussionen zu Löschanträgen ist häufig ausschlaggebend, dass es zu wenig Medienbeiträge über die entsprechende Person gibt. So berichtete vor der Nominierung von Donna Strickland kaum eine Zeitung über deren Forschung. Hier schliesst sich der Kreis: Erst wenn genügend über wichtige Frauen berichtet wird, zweifelt auch niemand mehr die Berechtigung eines Wikipedia-Eintrags für diese an.