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Erschienen in: NZZ Folio, August 2019

«Liebe ist für Teenager»

Patrick, 33, ist Dachdecker und hat früher seinen Handwerkerlohn bei Prostituierten wie Muay, 38, verjubelt. Heute sind die beiden ein Ehepaar.

Fragt jemand, wie sich Patrick und Muay kennengelernt hätten, sagen beide dasselbe: «In einer Bar.» Das ist nicht falsch. Es ist nur nicht die ganze Geschichte.

Patrick lebte damals mit meinem Freund in einer Wohngemeinschaft. Als Muay vor fünf Jahren das erste Mal bei ihm übernachtete, ahnten wir, woher er sie kannte: von dort, wo Patrick seinen Handwerkerlohn verjubelte. Doch niemand wusste so recht, wie wir der Frau mit dem kurzen schwarzen Kleid begegnen sollten. Traf ich Muay in der Küche, wechselte ich ein paar Worte mit ihr, über ihre Herkunft oder über thailändisches Essen. Einmal fragte ich, ob sie Ski fahren könne. Ich war total unbeholfen, nicht weil ich sie kaum verstand, sondern weil immer dieses Tabu im Raum stand: ihre Arbeit. Die Geschichte des Freiers, der sich in eine Prostituierte verliebt, kannten wir bisher nur aus dem Film «Pretty Woman» mit Julia Roberts und Richard Gere.

Es kostet mich auch heute Überwindung, Patrick zu fragen, ob er und Muay mir ihre Geschichte erzählen würden. Er schweigt zuerst, lacht dann und sagt: «Ich kann schon über meine dunkle Vergangenheit sprechen.» Auch Muay ist einverstanden, aber sie fragt: «Wieso eigentlich wir?» Schliesslich haben sie sich wie andere Paare im Ausgang kennengelernt – oder bei der Arbeit, je nach Perspektive.

Natürlich wissen Muay und Patrick, dass ihre Geschichte aussergewöhnlich ist. Sonst hätten sie nicht so lange geschwiegen. «Es hat ja niemand danach gefragt», sagt Patrick. Aber das stimmt nicht ganz. Immer wieder, spät in der Nacht, wenn alle genug getrunken hatten, sprach ihn jemand darauf an – und er lieferte ein Puzzlestück seines Liebeslebens, das dann bei uns die Runde machte.

Aber ich verstehe, dass Patrick und Muay bisher lieber geschwiegen haben. Wir alle hatten Vorurteile. Wie kann man nur so blöd sein, sich in eine Prostituierte zu verlieben? habe er gedacht, als er von Muay hörte, erzählt mir ein Freund. Eine Freundin fand, Patrick mache es sich «irgendwie zu leicht». Ich fragte mich, wie da mehr als Körperliches sein könne, wenn man sich sprachlich kaum verstehe. Und bekam das Grüsel-Bild des Freiers nicht aus meinem Kopf. Bis die beiden mir ihre Geschichte erzählten.

Patrick und Muay begegnen sich ein paar Häuser von seiner WG entfernt, mitten im Milieu, in der Sarina-Bar, einer Kontaktbar im Zürcher Kreis 4. Über dem Eingang hängt ein Schild mit einer barbusigen Blondine. Muay arbeitet in dieser Nacht zum ersten Mal hier, sie wechselt jeden Monat das Etablissement, damit die Kunden Abwechslung haben. Patrick war schon öfter hier. «Die anderen Frauen kannten ihn», sagt Muay.

Muay erinnert sich noch, wie Patrick bei ihrem ersten Treffen nicht den gängigen «Lady Drink» oder «Piccolo» für sie bestellt, sondern fragt, was sie trinken wolle. Sie zeigt auf die Champagnerflasche, sie kostet 390 Franken. Dafür dürfe Patrick eine Stunde auf Muays Zimmer. Von dort aus könne er in das Fenster seiner Wohnung auf der gegenüberliegenden Strassenseite sehen.

Doch die beiden bleiben in der Bar, ziehen sich mit der zweiten Flasche ins Séparée zurück. «Blablabla, geküsst, ein bisschen gespielt», sagt Muay über das, was dort passiert. Das übliche Programm eben.

«Wir haben uns einfach gut unterhalten», sagt Patrick. Er habe mit Muay am ersten Abend wohl über ihre Heimat und die Familie geredet, so wie mit anderen Prostituierten davor. Viele von ihnen stammten aus Osteuropa und sprachen wie Muay nur gebrochen Deutsch. Doch bei ihnen kam der schweigsame Dachdecker, der schon lange Single war, eher aus sich heraus, weil er das Gefühl hatte, sie würden ihn nicht bewerten. Im Gegensatz zu den Frauen, die er sonst im Ausgang traf.

Ob sie noch wisse, was sie beim ersten Treffen von ihm gehalten habe? «Ich habe nur gedacht: Champagner!» sagt Muay und lacht laut. Für sie ist Patrick einfach ein junger, stiller Kunde. Er kann nicht mehr so genau sagen, was ihm an der Thailänderin besser gefallen hat als an ihren Vorgängerinnen. «Es ist einfach Muay», sagt er und spricht von ihrem «starken Charakter», von der «Powerfrau», die sich beim Joggen verirrte und von Zürich bis nach Zug rannte.

Patrick besucht Muay wieder in der Kontaktbar, bald treffen sich die beiden auch ausserhalb der Geschäftszeiten, zum Mittagessen oder auf einen Kaffee. «Die Chemie hat einfach gestimmt», sagt Patrick. Er verliebt sich. Muay hingegen spricht von Kundenbindung und sagt: «Sorry Patrick, aber du weisst das. Das ist Business.»

Irgendwann schläft sie bei ihm in der WG. Ohne es auszusprechen, ist für beide klar: Patrick bezahlt Muay hier nicht. Er holt sie nun am Wochenende von der Arbeit ab, bleibt länger wach oder stellt den Wecker. Einmal fährt er mitten in der Nacht nach Chur, wo sie eine Weile arbeitet.

Am 1.Januar 2016 soll das Tänzerinnenstatut abgeschafft werden, die Verordnung also, die es Muay bisher erlaubt hatte, sich für acht Monate im Jahr in der Schweiz aufzuhalten. Muay kann sich nicht vorstellen, wieder in Thailand zu leben. Wenn sie heiraten würde, könnte sie in der Schweiz bleiben – und aufhören, als Prostituierte zu arbeiten. Mit 34 hat sie genug von diesem Beruf, auch wegen des vielen Alkohols, den sie in den Kontaktbars trinken muss.

«Aber Patrick war viel zu jung», sagt Muay. Sie glaubt nicht, dass er sie heiraten will. Er ist tatsächlich hin und her gerissen. Muay ist unter Druck, sie braucht ein Ja-Wort, auf das sie sich verlassen kann. Schliesslich heiratet sie einen anderen ehemaligen Kunden, mit dem die Ehe bereits abgesprochen war, und zieht zu ihm nach Winterthur. Patrick ist enttäuscht: «Ich habe sie ja gerngehabt und gedacht, dass sie mich auch gernhat.»

Nach der Hochzeit taucht Muay rasch wieder im Kreis 4 auf. Die Ehe läuft schlecht, ihr Mann spricht kaum Deutsch oder Englisch, kümmert sich um nichts und bedroht Muay schliesslich physisch. Sie ruft die Polizei, zieht aus, zuerst zu einer Freundin, später zu Patrick in sein kleines WG-Zimmer. Bald bekommt sie ein Schreiben vom Migrationsamt, dass sie die Schweiz verlassen müsse, weil sie getrennt von ihrem Ehemann lebe. Ein Anwalt hilft Muay, damit sie sich scheiden lassen kann.

Am 20.September 2017 heiraten Muay und Patrick. Mein Freund und ich sind auch zur Hochzeit eingeladen. Am Apéro im Zunfthaus zur Waag weiche ich Muays drei Freundinnen aus. Ich bin nicht die einzige. Haben meine Freunde einfach keine Lust auf Smalltalk? Oder haben sie, wie ich, Angst vor der Antwort auf die Frage, woher Muays Freundinnen sie kennen?

Heute wohnen Patrick und Muay Müller in einer Zweieinhalbzimmerwohnung mit Gartensitzplatz und Seesicht. Sie arbeitet in einer Fabrik und weckt ihn morgens, wenn sie den Stangensellerie entsaftet. Die Zeit in den Bars ist für beide vorbei. Deshalb fällt es ihnen leichter, darüber zu reden.

Muay sagt: «Ich hätte damals gar nicht über meine Arbeit mit euch sprechen wollen.» Wir hätten ein negatives Bild von ihr haben können. Muay ist hier oft mit dem Vorurteil konfrontiert, Thailänderinnen seien geldgierig. Dabei sei Patrick ja nicht einmal reich, sagt sie und lacht. Ihrer Familie hat sie nie erzählt, woher das Geld aus der Schweiz wirklich kam und wie sie Patrick kennengelernt hat. In Thailand würde sie sonst nicht respektvoll behandelt.

Auch Patricks Mutter kennt nur die Geschichte mit der Bar. Sie hat nie nachgehakt. Er schäme sich nicht dafür, wie er seine Frau kennengelernt habe, sagt Patrick. Schliesslich sei er den Frauen immer respektvoll begegnet. «Prostitution ist nicht unbedingt etwas Schlechtes, wenn die Frauen ohne Druck arbeiten können», sagt er. Nur sei das leider selten der Fall. Deshalb spendet er heute einer Anlaufstelle für Sexarbeiterinnen Geld. Als er erzählt, wie er mit 25 zum ersten Mal in ein Bordell im Niederdorf ging und mit der Besitzerin noch eins kiffte, lacht Muay. Was vor ihr geschehen sei, sei für sie kein Problem.

Beide hören an diesem Nachmittag, an dem sie ihre Geschichte erzählen, manche Gedanken und Erlebnisse des anderen zum ersten Mal. «Sorry, Patrick, das ist die Wahrheit», sagt Muay immer wieder. Sie erzählt, dass sie damals einfach in der Schweiz bleiben wollte. «Aber du hast doch auch Zuneigung gesucht?» fragt Patrick und kaut an seinen Nägeln.

Patrick ist ein guter Mann, ich möchte ihn nicht verlieren», sagt Muay. War irgendwann bei ihr Liebe im Spiel? «Nein», «vielleicht», «ja». Wir reden und reden, kreisen um diese Frage, schliesslich sagt Muay, sie wisse nicht, was Liebe sei. «Liebe ist etwas für Teenager.»

Muay ist selbst Mutter eines Teenagers. Ihr Sohn lebt bei den Eltern seines Vaters in Thailand, dank dem Handy sehen und sprechen sie sich oft. Patrick hat ihn bei der ersten Reise in Thailand kennengelernt.

Für Muay mögen andere Dinge zählen als für Patrick. Aber wenn ich mit ihnen zusammen bin, sehe ich, dass sie liebevoller miteinander umgehen als viele Paare, die die grosse Liebe beschwören. Sie necken sich oft: Muay nennt Patrick Pumpui, Fettsack auf thailändisch, und schwingt die Arme um seinen Bauch. Er sagt, dass sie jetzt nicht mehr weglaufen könne.

«Frau Müller» steht auch auf einem Bademantel, den wir ihr zur Hochzeit geschenkt haben, «Mr.Pumpui» auf seinem. Den Gutschein für die Übernachtung im Wellnesshotel haben sie bis heute nicht eingelöst.