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Erschienen in: NZZ, 15.08.2020

Unzählige unsichtbare Zudiener

Über digitale Plattformen werden Essenskuriere, Putzfrauen oder Clickworker einfach mit Kunden verbunden. Dieser Austausch ist aber selten fair. Drei Geschichten von der dunklen Seite der Plattformökonomie.

Interviews transkribieren ist eine mühsame, aufwendige Angelegenheit, die auf Redaktionen auch einmal an den Volontär oder in Forschungsteams an die günstige studentische Assistentin weitergegeben wird. Als freie Journalistin habe ich niemanden unter mir. Dachte ich zumindest. Denn über Plattformen wie Amazon Mechanical Turk (MTurk) erhalte ich mit ein paar Klicks Zugriff auf einen riesigen Pool an Arbeitskräften im Ausland, die solche Arbeiten günstig und schnell für mich erledigen können.

MTurk ist die bekannteste digitale Plattform, die Auftraggeber und Auftragnehmer von überall auf der Welt unverbindlich zusammenbringt, das heisst, ohne dass ein geregeltes Arbeitsverhältnis bestünde. Ich wage den Versuch mit einem kurzen Gespräch auf Italienisch, das ich transkribieren müsste. Für die Transkription des achtminütigen Gesprächs biete ich auf MTurk drei Dollar an. Ist das viel für jemanden, der Italienisch spricht und womöglich in Italien am Computer sitzt? Ich weiss es nicht. Sowieso fühlt es sich merkwürdig an, den Auftrag hochzuladen. Denn ich habe keine Ahnung, wer für mich unter welchen Umständen arbeiten wird.

Mein 3-Dollar-Auftrag

In der Schweiz erledigt kaum jemand solche Clickwork genannte anonyme Computerarbeit. Für die hiesigen Verhältnisse sind die auf globalen Plattformen ausgeschriebenen Minijobs schlicht zu schlecht bezahlt. Doch hierzulande wird durchaus Arbeit für die Clickworker generiert. In der Forschung etwa werden über MTurk einfach und schnell Teilnehmer rekrutiert für Studien, die sonst viel zu aufwendig und teuer würden.

Ivo Blohm, Leiter des Kompetenzzentrums für Crowdsourcing an der Universität St. Gallen, geht davon aus, dass das Phänomen Plattformarbeit in der Schweiz grösser als angenommen ist und ein grosses Entwicklungspoten- zial hat. «Für fast jede Funktion in einem Unternehmen gibt es inzwischen Angebote über digitale Plattformen», sagt Blohm. Er nennt das Testen von Apps oder das Zuordnen von Daten als Beispiele für Arbeiten, die von einer Crowd, also einer Menge über das Internet vermittelter Menschen, erledigt werden. Unternehmen, mit denen er zu externen Crowds gearbeitet hat, hätten dabei primär Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes gehabt, so Blohm.

Da ich kein heikles Material transkribieren lasse, habe ich primär Bedenken bezüglich der Angemessenheit meiner Bezahlung. Prompt stellt sich heraus, dass ich mit meinem Auftrag zahlreichen Leuten unbezahlte Arbeit bereitet habe. Offenbar habe ich das Audio-File schlecht verlinkt, so dass viele Leute den Auftrag unerledigt retournierten. Das erklärt mir Roberta aus Rom, die sich in einer Mail als erfahrene «Turkerin» bezeichnet. Sie hat es irgendwie geschafft, an mein File zu kommen, brauchte insgesamt aber fast eine Stunde für den 3-Dollar-Auftrag.

Der Zwischenfall ist exemplarisch für die zahlreichen Tücken der Plattformarbeit. So schreibt die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), dass auch hochqualifizierte, wohlgesinnte Nutzer die Clickworker oft unwillentlich zu tief bezahlen oder schlecht behandeln. Clickworker wenden zudem für jede Stunde bezahlte Arbeit 20 Minuten unbezahlte Arbeit auf, um an Jobs zu kommen, Reviews zu schreiben oder zu recherchieren, ob Auftraggeber vertrauenswürdig sind.

Denn auf MTurk kann ich als Auftraggeberin die Bezahlung ohne Grund verweigern. Das Einzige, was «Turker» dann tun können, ist, solche Auftraggeber auf schwarzen Listen zu teilen. Anja Schulze, Wirtschaftsprofessorin an der Universität Zürich, die MTurk für ihre Forschung nutzt, sagt denn auch, dass sie immer bezahle, selbst wenn ein Studienteilnehmer sich nur durch die Studie durchklicke. Denn Schulze will bei MTurk als gute Auftraggeberin bewertet werden, um auch künftig Studienteilnehmer zu finden.

Dass auf den anonymen Plattformen kein fairer Austausch zwischen Auftraggebern und Dienstleistern herrscht, merke ich anhand weiterer Aufträge. Da ich diese nicht nur für topgerankte Arbeiter freigebe, erhalte ich statt einer Transkription schlicht Schrott. Ein User, der für mich nur als lange Aneinanderreihung von Buchstaben und Zahlen erscheint, hat mir völlig zusammenhangslose französische Sätze geschickt, die gar nichts mit dem Inhalt meines Gesprächs zu tun haben. Wahrscheinlich hat die Person einfach Sätze aus dem Internet kopiert, in der Hoffnung, dass ich trotzdem bezahle. Ich verweigere die Bezahlung und frage mich im nächsten Moment, welches Schicksal hinter den Zahlen und Buchstaben steht.

Clickwork ist nur die eine, wenig sichtbare Seite der Plattformökonomie. Auf der anderen Seite stehen ortsgebundene Dienstleistungen wie Fahrdienste, Essenslieferungen oder Reinigungsarbeiten, die ich per App bestellen kann. Die damit verbundenen arbeitsrechtlichen Probleme sind durch den Fall Uber bekannt: Die meisten Plattformanbieter bestehen darauf, nur Vermittler zu sein. Sie stellen die Plattformarbeiter nicht an und versichern sie auch nicht.

Während des Lockdowns waren die Strassen voller Essenskuriere mit Uber- Eats-Rucksäcken, die von Auftrag zu Auftrag unterwegs schienen. Timon Winkler erzählt eine andere Geschichte. Der ausgebildete Konstrukteur begann vor einem halben Jahr als Essenskurier bei Uber Eats. Ihn reizte, dass er ohne Bewerbung und ohne Vorstellungsgespräch einsteigen und erst noch nur dann arbeiten konnte, wann er Lust hatte. Am Anfang ging die Rechnung auf: Mit einem sportlichen Tempo verdiente der 23-Jährige etwa 30 bis 35 Franken pro Stunde, Aufträge gab es genug, bis Corona kam.

Zu Beginn des Lockdowns stieg die Nachfrage nach Essenslieferungen stark an, doch gleichzeitig wurde die Arbeit als Kurier gefragter. Nach einigen Wochen erhielt Winkler kaum mehr Angebote über die App. Einmal habe er in acht Stunden, in denen er online war, nur 40 Franken verdient. «Und dabei muss man immer sofort einsatzbereit sein», sagt er. So nahm er einmal einen Auftrag an, als er gerade im Supermarkt war. Er musste länger an der Kasse anstehen und erhielt später eine schlechte Bewertung für die verspätete Auslieferung und damit weniger Chancen auf künftige Jobs – von einer Person, die er durch die kontaktlose Lieferung nie gesehen hat.

Was ich als Kundin ebenfalls nicht erfahre: Ist die Pizza im Restaurant nicht zur angegebenen Zeit fertig, wartet der Fahrer, dessen Honorar im Voraus bestimmt ist, unbezahlt. Inzwischen hat Winkler eine reguläre Anstellung bei einem Lebensmittellieferanten gefunden. Er sagt: «Ich kann niemandem empfehlen, von Uber Eats zu leben.»

Dass Plattformarbeit nur im Idealfall für beide Seiten aufgeht, zeigt auch die Erfahrung von Claudia Estéves*. Die Portugiesin arbeitet als Putzfrau für die Plattform Batmaid, über die ich mit ein paar wenigen Klicks eine einmalige oder regelmässige Wohnungsreinigung bestellen kann. Von den 32 Franken, die ich als Kundin pro Stunde bezahle, bleiben ihr 21 Franken. Trotzdem arbeitet Estéves gerne für Batmaid. Die App sei praktisch, um an Reinigungsaufträge zu kommen, sagt die 25-Jährige.

Unanständige Kunden melden

Auch bringt die Unverbindlichkeit des Arbeitsverhältnisses nicht nur Nachteile. So erzählt die Putzfrau, wie sie bei einer Reinigungsfirma, für die sie Teilzeit arbeitet, von ihrer Vorgesetzten schikaniert werde. Aus Angst, die Stelle zu verlieren, wehrt sie sich nicht. Bei der Arbeit per App sei das anders: «Falls sich ein Batmaid-Kunde nicht anständig verhalten sollte, könnte ich den nächsten Auftrag von ihm einfach ablehnen.»

Doch auch die Kunden können Aufträge absagen, was im Lockdown reihenweise passierte. Batmaid stellte seine «Reinigungs-Heros», mit denen das Unternehmen wirbt, bis anhin nicht an und konnte deshalb auch keine Kurzarbeit für sie beantragen. Verdiente Estéves über die App zuvor im Schnitt rund 1500 Franken pro Monat, war es plötzlich nur noch die Hälfte. Zwar hätten Batmaid-Kunden, für die Estéves regelmässig arbeitet, ihr als eigentliche Arbeitgeber weiterhin Lohn geschuldet. Doch diese konnten zunächst auf der Plattform anwählen, ob sie weiterbezahlen wollten oder nicht. Nach einigen Wochen informierte das Schweizer Startup darüber, dass sie dazu verpflichtet seien, den Lohn weiterhin zu bezahlen. «Doch wir können die Kunden nicht zwingen, die Reinigung zu bezahlen. Wir sind nur Vermittlerin», sagte Andreas Schollin-Borg, CEO von Batmaid, Mitte Juni.

Einen Monat später verabschiedete sich das Unternehmen in der «NZZ am Sonntag» von der «Uberisierung» und gab bekannt, dass es einem Grossteil der Reinigungskräfte eine Festanstellung anbieten werde. Claudia Estéves hat von der Kehrtwende bei Batmaid nichts erfahren. Sie arbeitet weiterhin per Klick.

* Name geändert